Soziale Selbstverwaltung als Markenzeichen der Sozialversicherungen stärken
von Peter Weiß, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen
Insgesamt 3.860 Vertreterinnen und Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber (und bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau auch die der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte) haben bei den Sozialwahlen 2023 ihre Mandate in den Vertreterversammlungen, den Verwaltungsräten und den Vorständen bei den 144 Sozialversicherungsträgern im Bereich der Gesetzlichen Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung in Deutschland neu beziehungsweise erneut übernommen. Sie engagieren sich ehrenamtlich in der Sozialen Selbstverwaltung und sind damit Teil unseres demokratischen Gemeinwesens.
Dort tragen sie Verantwortung in der Verwaltung und in der Gestaltung unserer Sozialversicherungen. Sie sind damit verlässliche Partner und Säulen der sozialen Sicherung für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie sind Garanten des Sozialstaates. Bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung finden so ganz konkret statt, jeden Tag und dies für ganze sechs Jahre. Denn so lange dauert eine Legislaturperiode in der Sozialen Selbstverwaltung. Den Gewählten und denen, die sich für eine Kandidatur bei den Sozialwahlen 2023 bereit erklärt haben, gilt daher mein herzlicher Dank! Wir alle sollten sie zu der ehrenvollen und wichtigen Tätigkeit zum Wohl unserer Sozialversicherungen und damit zum Wohl der Versicherten beglückwünschen.
Gemeinsam mit meiner Stellvertreterin - Doris Barnett - habe ich einen Schlussbericht über die Sozialwahlen 2023 verfasst und diesen in einer öffentlichen Veranstaltung Ende September 2024 an Bundesminister Hubertus Heil übergeben. Die Aufzeichnung der Veranstaltung und eine elektronisch Fassung des Schlussberichtes können Sie abrufen über: www.bundessozialwahlbeauftragter.de
Bei den Sozialwahlen 2023 gab es zwei Neuerungen, welche auch die künftigen Sozialwahlen prägen werden:
Das Modellprojekt Online-Wahlen und
die Einführung einer Geschlechterquote.
An dem Modellversuch „Online-Wahl“ haben sich 15 gesetzliche Krankenkassen beteiligt. Fünf gesetzliche Krankenkassen führten letztlich eine Online-Wahl durch. Erstmals war es in Deutschland möglich, seine Stimme bei einer vom Gesetzgeber veranlassten Wahl auch online abzugeben. Die erfolgreiche Durchführung des Modellprojektes wird die Diskussion darüber beflügeln, ob und bei welchen Wahlen in Deutschland den Wählerinnen und Wählern künftig die Möglichkeit eröffnet werden soll, ihre Stimme digital abzugeben. Den Sozialwahlen gebührt der große Verdienst, diesen ersten Modellversuch gewagt zu haben und damit Schrittmacher im Prozess der Digitalisierung der Wahlen zu sein.
Eine weitere Innovation im Wahlrecht war die Festlegung einer Geschlechterquote. Auch dies ist im deutschen Wahlrecht bislang einmalig. Zur Sozialwahl bei einem Sozialversicherungsträger durften nur die Vorschlagslisten zugelassen werden, die mindestens 40 Prozent Männer und Frauen aufwiesen. Bei den gesetzlichen Krankenkassen war die Geschlechterquote verpflichtend. Bei den Rentenversicherungsträgern und den Unfallversicherungsträgern galt eine „Soll“-Vorschrift. Sowohl bei den Sozialversicherungsträgern, für die die Geschlechterquote verpflichtend galt, als auch dort, wo sie nur als „Soll-Vorschrift“ ausgestaltet war, hat die Geschlechterquote zu einer signifikanten Steigerung der Beteiligung von Frauen in den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung geführt. Der durchschnittliche Frauenanteil in den Gremien der sozialen Selbstverwaltung liegt jetzt bei 43,2 Prozent.
Daher waren die Sozialwahlen 2023 trotz eines Rückgangs der Wahlbeteiligung ein Erfolg. Allerdings hat eine Nachwahlbefragung und weitere Studien gezeigt, dass die Bedeutung der Sozialen Selbstverwaltung und damit auch der Sozialwahlen im Bewusstsein der Versicherten nur schwach verankert ist. Vielfach wird auch der Nutzen einer Sozialen Selbstverwaltung angezweifelt, weil sie ohnehin nur über geringe Kompetenzen verfüge. Eine ehrliche und gründliche Analyse dieser Befunde muss zu der Erkenntnis führen, dass ein einfaches „Weiter so“ keine Perspektive für die Soziale Selbstverwaltung und für die Sozialwahlen ist. Deshalb machen Doris Barnett und ich in unserem Bericht eine Reihe von Vorschlägen, um die Thematik der Zukunft der Sozialen Selbstverwaltung und damit auch der Grundarchitektur der Sozialversicherungen in Deutschland anzugehen. Wir wollen damit in der Gesellschaft, bei den Sozialpartnern und in der Politik einen Diskussionsprozess anstoßen, der zu einer neuen Verständigung über die Grundlagen der sozialen Sicherung und über Auftrag und Sinn einer Sozialen Selbstverwaltung führen soll. Die wichtigsten Empfehlungen sind:
Die soziale Selbstverwaltung braucht Verfassungsrang - Die Selbstverwaltung in den Sozialversicherungsträgern sollte im Grundgesetz verankert werden.
Vermittlung von Basiswissen des deutschen Sozialversicherungssystems in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit
Verbesserte Öffentlichkeitsarbeit und mehr Kompetenzen der Selbstverwaltungen.
Wir würden uns sehr freuen, wenn unsere Vorschläge nicht nur diskutiert, sondern auch konkret aufgegriffen würden. Spätestens in der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages sollten dann auch entsprechende Entscheidungen getroffen werden.