F.A.Z., 17.06.2025, Nr. 138, Wirtschaft, S. 17
Die Sozialbeiträge sind 4,5 Punkte zu hoch
Peter Weiß ist Bundesbeauftragter für die Sozialwahlen. Er will den Zugriff der Politik auf die Beitragskassen begrenzen. Dazu schlägt er vor, im Grundgesetz die Rechte der Selbstverwaltung durch Versicherte und Arbeitgeber zu schützen.

Herr Weiß, Sie wollen die sozialpartnerschaftliche Selbstverwaltung der Sozialversicherungen im Grundgesetz verankern. Hat der deutsche Sozialstaat gerade keine drängenderen Probleme?
Natürlich lassen sich nicht alle Probleme des Sozialstaats und der Sozialversicherungen einfach mit dem Grundgesetz unterm Arm lösen. Aber eine gestärkte soziale Selbstverwaltung kann einen größeren Beitrag zur Problemlösung leisten, als dies heute der Fall ist. Auch deswegen ist es sinnvoll, deren Funktion in der Verfassung zu verankern.
Ein Problem ist der Anstieg der Sozialabgaben in Richtung 45 Prozent des Bruttolohns. Was hat Ihr Vorstoß damit zu tun?
Wir brauchen wieder mehr Ordnung im Sozialsystem. Beitragsbezogene Leistungen sind aus den Sozialbeiträgen zu finanzieren, aber für nicht beitragsbezogene Leistungen muss es Steuermittel geben. Im Grunde sind die Sozialbeiträge heute um 4,5 Prozentpunkte zu hoch, nur weil die Steuermittel für solche Leistungen nicht in der gebotenen Höhe fließen. Die Beitragssätze könnten also noch immer klar unter 40 Prozent liegen. Eine starke Selbstverwaltung wäre in der Position, diese Ordnung besser gegen politische Begehrlichkeiten zu verteidigen, und sie könnte eine an den Einnahmen orientierte Ausgabenkontrolle durchsetzen.
Was wollen Sie im Grundgesetz regeln?
Artikel 87 bestimmt, dass die Sozialversicherungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen sind. Sie sind also keine Behörden, die nur Gesetze auszuführen haben. Das Wesen dieser Rechtsform liegt darin, dass die Mitglieder der Sozialversicherungen, also die Versicherten, ihre Interessen in einem gewissen Rahmen autonom wahrnehmen und regeln können. Im politischen Alltag fehlt aber oft eine klare Vorstellung davon, wie viel Eigenständigkeit das impliziert. Ich werbe vor allem für eine Klarstellung, dass dies auch die Satzungsautonomie der Sozialversicherungen umfasst.
Und was ändert das?
Es geht darum, die Träger der Sozialversicherung als Treuhänder ihrer Versicherten wirksam mit eigenen Rechten auszustatten. Ein solcher Passus würde dem Gesetzgeber zwar nicht verbieten, in die Belange der Sozialversicherung einzugreifen. Aber er müsste solche Eingriffe sehr viel sorgfältiger begründen als bisher. Und das sollte mit einer Klarstellung im Sozialgerichtsgesetz flankiert werden. Die Sozialversicherungen wären dann in der Lage, sich für ihre Mitglieder gegen Übergriffe anderer staatlicher Einrichtungen notfalls rechtlich zur Wehr zu setzen. Heute können in Streitfällen in der Regel nur einzelne Versicherte klagen. Aber für sie ist die Beweislast oft unüberwindbar hoch, da sie eine Verletzung ihrer persönlichen Rechte nachweisen müssen.
Wie sicher kann man sein, dass die von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern dominierte Selbstverwaltung die Beitragszahler besser vertritt als die Politik?
Die Selbstverwaltung hat immer ein starkes Interesse, sich für sorgsamen Umgang mit den Beitragsmitteln einsetzen. Und dass sie allergisch reagiert, wenn die Politik versicherungsfremde Leistungen beschließt, ohne die nötigen Steuermittel bereitzustellen, haben wir ja immer wieder erlebt. Nur fehlt ihr heute zuweilen der nötige Einfluss dazu.
Denken Sie da etwa an die Erhöhungen der Mütterrente auf Beitragszahlerkosten - die Sie als CDU-Abgeordneter allerdings selbst mitbeschlossen haben?
Daran hat sich jedenfalls beispielhaft gezeigt, wie klar und einhellig die Selbstverwaltung auf Steuerfinanzierung pochen kann, wenn das ordnungspolitisch geboten ist. Und ich gebe zu, dass ich auf diesen Aspekt der damaligen Beschlüsse nicht besonders stolz bin.
Aber wie sicher können die Beitragszahler sein, dass eine starke Selbstverwaltung nicht auch lauter neue Leistungen auf ihre Kosten beschließt?
Auch die Selbstverwaltung ist ja demokratisch durch die Mitglieder legitimiert. Zugleich sorgt auf der Ausgabenseite die paritätische Besetzung der Selbstverwaltungsorgane mit Arbeitgeber- und Versichertenvertretern für Disziplin. Es gibt dort keinen Vorsitzenden mit Stichentscheid und kein Schlichtungsverfahren. Die Selbstverwaltung kann also nur beschließen, was Arbeitgeber- und Versichertenvertreter gemeinsam wollen.
Mit den Sozialwahlen sollen Versicherte alle sechs Jahre bestimmen, wer sie in der Selbstverwaltung vertritt. Aber zuletzt, im Jahr 2023, lag die Wahlbeteiligung bei gerade noch 22 Prozent. Was läuft da schief?
Wie uns Nachwahlbefragungen zeigen, wissen die meisten Versicherten nicht, um was es dabei geht. Die Listennamen sagen ihnen nichts, die handelnden Personen kennt man nicht. Und die Frage, ob man persönlich einen Nutzen von der Selbstverwaltung hat, kann man nicht beantworten - aus den schon besprochenen Gründen. Diese Lageanalyse zeigt, dass es höchste Zeit ist, eine Grundsatzentscheidung zu treffen: Wollen wir die soziale Selbstverwaltung wieder stärken und auch wieder ins öffentliche Bewusstsein rücken oder etwa nicht? Die Probleme zu ignorieren und alles so weiter laufen zu lassen, hieße, die große Bedeutung der Sozialversicherung zu missachten.
Lobreden auf die Selbstverwaltung und Reformappelle gab es schon häufig. Warum ist trotzdem wenig passiert?
Ehrlich gesagt, das kann auch ich schwer verstehen. Wir reden in Deutschland allenthalben von mehr Bürgerbeteiligung, um Demokratie zu stärken. Es wurde sogar schon ein Bürgerrat für gute Ernährung eingesetzt. Aber es wird übersehen, dass wir ein bewährtes und wichtiges System der Bürgerbeteiligung längst haben - eben die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen, deren Ausgaben übrigens den Bundeshaushalt deutlich übertreffen. Es geht also nicht um Nebensächlichkeiten. Trotzdem schaut man weg oder übergeht sogar legitime Beteiligungsrechte. Das passt nicht zusammen. Die Verfassungsfrage, die ich aufwerfe, ist auch ein politischer Anstoß für alle Akteure, in dieser Sache Farbe zu bekennen.
Was spricht überhaupt dafür, neben staatlicher Sozialpolitik eine "selbstverwaltete" Sozialversicherung zu haben?
Da gibt es einen grundlegenden Unterschied: Der Staat hilft bei Bedürftigkeit mit Leistungen wie Sozialhilfe und Bürgergeld. Aber in der Sozialversicherung erwerben wir Versicherte mit unserer Beitragszahlung einen Leistungsanspruch unabhängig von Bedürftigkeit. Und deshalb ist es richtig, dass wir Versicherte diese Sozialversicherungen selbst verwalten.
Die Realität erinnert oft eher an ein Beschäftigungsprogramm für Funktionäre: 17 Selbstverwaltungsorgane für die Rente, sogar 25 für die Unfallversicherung - sollte man das dann nicht mal straffen?
Sehen Sie es doch andersherum: 3860 Frauen und Männer arbeiten ehrenamtlich mit in den Selbstverwaltungsgremien unserer Sozialversicherungen. Das ist eine echte Bürgerbewegung. Die machen einen tollen Job, den wir mehr wertschätzen sollten.
Also besteht kein Reformbedarf?
Es ist schon richtig, auch in der Organisation fortlaufend besser zu werden. Zum Beispiel jährt sich im Oktober zum zwanzigsten Mal die Organisationsreform bei der Rentenversicherung. Das könnte Anlass sein, diese jetzt mal zu evaluieren. Ähnliches gilt für andere Zweige wie die Unfallversicherung. Oder denken wir an die gesetzlichen Krankenkassen: Deren Zahl ist seit 1970 von mehr als 1800 durch Fusionen auf 94 zurückgegangen. Und man darf annehmen, dass diese Entwicklung noch nicht zu Ende ist.
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